Maerissas Befreiung – Teil zwei
Die Wellenreiter hielt mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf die Hafeneinfahrt von Markeh zu. Kapitänin Adawaes Zauber holten aus dem gekaperten Transportschiff alles heraus. Hoffentlich war es nicht zu viel ‒ aber sie mussten die Verfolgungsjagd verkaufen, wollten sie überhaupt eine Chance haben.
„Verdammt!“ Issana setzte ihr Fernglas ab. „Sie haben zwar die Kriegsschiffe rausgeschickt, um unsere ‚Verfolger“ in Empfang zu nehmen ‒ aber sie haben auch die Hafenkette wieder hochgezogen! Wir werden auflaufen!“ Issana funkelte Jaakal wütend an. Der war jedoch die Ruhe selbst.
Er grinste sogar. „Keine Sorge. Sie werden die Fracht, die sie erwarten, nicht gefährden wollen. Vertraut mir!“
Kapitänin Simin spuckte aus. „Für meinen Geschmack vertrauen wir dir schon viel zu viel. Wenn wir die Kette rammen, sind wir so gut wie tot.“ Der junge Kapitän zuckte nur mit den Schultern.
„Die Einsätze sind gemacht. Von hier an gibt es kein Zurück mehr…“
Die Wellenreiter hielt weiter auf den Hafen zu.
300 Schritt… 200 Schritt… Nichts geschah. Die Kette blockierte weiter den Weg.
100 Schritt… Da!
Die Kette begann, sich langsam zu senken – doch leider einen kurzen Augenblick zu spät! Die Wellenreiter flog bereits in voller Fahrt durch die Hafeneinfahrt. Holz krachte irgendwo im Bauch des Schiffes und ein plötzlicher Ruck warf Issana fast von den Beinen. Die Kette mussten den Rumpf aufgerissen haben ‒ doch Adawaes Magie trieb das Schiff weiter vorwärts!
„Alle Hand an Deck! Fertig machen zur Landung!“ Jaakals Stimme hallte über Deck und die ersten Piraten kletterten aus den Luken. Issana hangelte sich zur Reling. Sie mussten jetzt Vizaria möglichst schnell im Hafen ausfindig machen. Wo war sie nur? Issana konnte Zahidas Quartiermeisterin nirgendwo entdecken. Es schien, als würden sie sich auf die Information Kapitän Naarins verlassen müssen, dass die Gefangenen ein oder zwei Ebenen unter Brückenebene einsaßen…
„Festhalten!“ Mit einem ohrenbetäubenden Krachen rammte die sinkende Wellenreiter den Kai und bekam gleich darauf Schlagseite. Keine Zeit mehr für Zweifel, sie mussten runter vom Schiff. Issana reckte ihren Säbel in die Höhe und rief: „Angriff!“
Sie konnte nur darauf hoffen, dass sie möglichst schnell Maerissas Zelle fanden, und dann wenigstens der vorbereitete Fluchtplan funktionierte…
Fürwahr ‒ von hier an gab es kein Zurück mehr!
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Vizaria harrte regungslos in ihrem Versteck aus. Getarnt als Schiffbrüchige edler Herkunft hatte sie die Festungsinsel Markeh infiltriert, doch gerade als sie Maerissas Zelle gefunden hatte, wurde sie enttarnt. Nur mit Glück konnte sie den alarmierten Wachen entkommen und wartete nun in einer dunklen Nische auf den Angriff der Piraten. Das Hafenbecken konnte Vizaria nicht sehen, doch sie konnte es hören. Sie hörte das Kreischen der Möwen und die Gespräche der Wachen. Sie hörte, wie die schwere Hafenkette hinaufgezogen wurde. Und dann wie ein Schiff mit ohrenbetäubendem Krachen in sie hinein fuhr. Alarmrufe erklangen und Soldaten bemannten die Geschütze der Festung. Der Angriff hatte begonnen!
Blitzartig sprang Vizaria auf und rannte los. Um zwei Ecken ging es herum und dann eine steile steinerne Treppe hinunter. Zwei Soldaten auf den Stufen vor ihr bekamen ihren Säbel zu spüren, doch niemand beachtete ihre Schreie, denn im Hafen am Fuße der Treppe tobte bereits ein wilder Kampf. Vizaria konnte sehen, wie Jaakal, Simin und Issana mit ihren Leuten die patalischen Soldaten überrannten. Gerade zog Simin ihre Klinge aus der Brust eines Wachmanns, als Vizaria mit einem großen Sprung die letzten Treppenstufen nahm und zu ihnen aufschloss. „Wir müssen in die Gewölbe unter der Festung! Maerissa sitzt in Zelle LIV!“, berichtete sie den Kapitänen und überreichte Kapitänin Simin einen Fetzen Pergament, auf dem der Weg grob eingezeichnet war.
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Djavar stand auf dem Achterdeck der Seehexe und beobachtete angespannt die sich entwickelnde Seeschlacht. Die Kulzarak, die berüchtigte Dschunke Barwol Kunais, befand sich zusammen mit der Möwenhetzer unter Torbin und Zahidas Jahanara gerade im Kampf mit den entsandten Kriegsschiffen Markehs, während Long Guis Perle von Sentau und Jannis‘ Knarzkahn sich gelöst hatten und die Festungsmauern angriffen. Magisches Feuer prasselte auf sie hernieder. Relativ unbemerkt hatte sich hingegen der seealbische Katumar von Dariel Sturmklinge in Position gebracht.
Djavar wandte sich an die Seealbin zu seiner Rechten. „Sie sind lange genug drin. Zeit für unser zweites Geschenk an Markeh! Die Sturmklinge soll die Fässer losschicken!“ Die Seealbin nickte kurz und schloss die Augen.
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Es dauerte eine Weile bis Simin sich einen Weg durch die vielen Korridore gebahnt hatte. Vizarias Kenntnisse über die Festung machten sich bezahlt, und so kamen sie über wenig genutzte Wege unbehelligt zu dem Gewölbe, wo sich Maerissa befinden sollte. Schon ein Stockwerk darüber hatten sie die Wachen überwältigt und die ersten Zellen mithilfe eines abgenommenen Schlüssels geöffnet, um andere Gefangene zu befreien. Die meisten dürften ebenfalls Korsaren sein. Diejenigen, die noch stark genug waren, flüchteten gleich nach oben. Entweder, um sich an den Kämpfen zu beteiligen und Rache zu üben, oder ‒ was bei Piraten wahrscheinlicher war ‒ die Festung zu plündern. Simin scherte sich nicht weiter darum. Das Testament von Rosthaupt war sicher wertvoller als alles, was Markeh sonst noch so zu bieten hatte.
Der Boden wackelte unter Erschütterungen, von draußen hörte man dumpf Explosionen. War das das Seefeuer oder die Magie? Allzu lange durften sie nicht mehr hier bleiben. Simins Nackenhärchen stellten sich auf. Jeder von ihnen konnte spüren, wieviel Magie in diesem Kampf bereits freigesetzt worden war. Atiel, eine albische Bannmagierin aus Simins Gefolge, wirkte zunehmend angespannter.
Die dunkelhäutige Kapitänin Adawae probierte gerade eine der Zellen zu öffnen, aber der Schüssel vom vorherigen Stockwerk schien hier nicht zu passen. „Ich würde es mit Magie versuchen, wenn es nicht zu riskant wäre…“
„Wir verlieren zu viel Zeit“, drängte Issana, Djavars Tochter. „Sind wir hier richtig?“
Simin studierte die Karte, die Vizaria ihr gegeben hatte. „Wir können nicht alle Zellen aufbrechen. Vizaria, welche ist es? … Vizaria?” Die Kapitänin drehte sich um, als keine Antwort von der Quartiermeisterin kam; nur, um in die finsteren Augen eines ihr unbekannten Vargen zu starren. Ein Varg in patalischer Rüstung noch dazu. Hinter ihm hatten sich weitere Soldaten aufgebaut, bewaffnet mit Säbeln und Speeren. Zwei von ihnen versuchten Vizaria zu bändigen, was jedoch keine leichte Aufgabe war.
„Da haben wir ja die edle Schiffbrüchige“, höhnte der fremde Varg und blickte zu der zappelnden Vizaria.
Neben Simin knurrte Dragao, einer ihrer Gefolgsleute, und spannte seine Muskeln an. Simin schüttelte kaum merklich den Kopf und bedeutete ihm, dass er sich zurückhalten sollte. Stattdessen blickte sie zu dem großen Schlüsselbund, der am Gürtel des anderen Varg baumelte. Vermutlich der Schließer für dieses Stockwerk, keine gute Wahl für sie.
„Und wer seid ihr? Die edlen Retter?“, fragte der Varg.
„Genau genommen wollten wir jemand ganz anderen retten“, erwiderte Simin frech.
„Und wie du vielleicht hörst, haben wir Verstärkung mitgebracht“, steuerte Issana bei und deutete gen Decke.
„Dummerweise nicht bis hier unten“, entgegnete der Schließer grinsend, wobei er seine scharfen Fangzähne entblößte. Ja, dummerweise nicht bis hierher. Die Patalier waren in der Überzahl. In ihrem Eifer, die Gefangenen zu befreien, hatten sie wohl einige von den begleitenden Korsaren eingebüßt.
„Ich denke, das Risiko muss mittlerweile gerechtfertigter Weise eingegangen werden“, sagte Adawae eher nachdenklich zu sich selbst.
„Schmeißt eure Waffen auf den Boden oder die Kleine muss dran glauben“, knurrte der Varg und nickte hinüber zu Vizaria.
Simin machte vorsichtig einen Schritt zurück, ihren Säbel langsam ziehend. Die anderen taten es ihr zögerlich gleich. Adawae blieb dagegen stehen, wo sie war. Langsam hob sie ihr mit Edelsteinen besetztes Zepter, das im Licht der Fackel funkelte.
„Dies ist keine Waffe, sondern mehr ein ritueller ‒“, setzte sie an.
„Her damit!“, unterbrach sie der Varg und griff danach, als plötzlich einer der Edelsteine am Zepter regelrecht explodierte. Simin wurde zu Boden geschleudert, als sich der Gang selbst scheinbar aufbäumte wie ein wütendes Tier. Sie war nicht die einzige, die umher gewirbelt wurde. Zwischen ihnen und den Pataliern schob sich eine weitere Felswand empor. Knapp bevor sie mit der Decke des Korridors verschmolz, schob sich Vizaria noch oben hindurch.
„Was war das?!“, verlangte sie zu wissen.
Adawae richtete sich mühsam wieder auf, der Boden wackelte immer noch. „Einer meiner Strukturgeber. Er war eigentlich dazu gedacht, uns einen Ausgang durch die Felswände zu verschaffen.“
„Das könnten wir jetzt gebrauchen. Wir sitzen fest.“, sagte Simin und deutete auf das Ende des Ganges, wo sich nur eine weitere Zellentüre befand.
„Dort drin muss Maerissa sein“, erklärte Vizaria. Eine weitere Welle erschütterte den Gang, für einen Moment schob sich der Boden so weit nach oben, dass sie beinahe gegen die Decke gepresst wurden. Simin konnte sie schmerzhaft an ihrem Rücken kratzen spüren. Auf allen Vieren krochen sie über den instabilen Boden, wobei der große Dragao als Varg noch am meisten Schwierigkeiten hatte.
Issana keuchte, „Das Risiko war es also wert, hm?“
von Avalia, Candacis, DrGonzo und Irian
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