Die Testamentseröffnung – Teil zwei

Veröffentlicht am 2. Juni 2016 von Uhrwerk Verlag in Lorakische Geschichten

Ich kann diese Familie nicht ausstehen. Ich hasste ihren verlogenen Vater und den selbstherrlichen Mistkerl, der ihr Großvater war. Und Maerissa ist kein Stück besser als ihre alten Herren. Die Gedanken der früheren Selenierin wurden von Rufen aus dem Inneren der Insel unterbrochen. Einer der Männer, den sie als Koch hierher gebracht hatte, erging sich in lauten Worten über das wenige Feuerholz, bis er von Maerissa eine Ohrfeige bekam. Ein wenig traumverloren drückte sich die Albe in den leicht erhöhten Felssitz und überlegte, wie es eigentlich dazu gekommen war.
Sie, Uzmia, gehörte ursprünglich zur Besatzung der Sturmsegel, hatte sich aber auf dem letzten Landgang etwas eingefangen. Als sie aus ihrer Bettruhe schließlich aufgestanden war, lag keines von Rosthaupts Schiffen mehr im Hafen. Also hatte sie sich wieder ins Bett gelegt und die Zeit rumgebracht. Sie hatte von Maerissas Gefangennahme und Rosthaupts Testament gehört und den Tag der Rückkehr der jungen Kapitänin gefürchtet. Zu Recht, denn an jenem Tag war die Tochter dieser Missgeburt in die Stube gestürmt, die sie sich mit dem damals ebenso versehrten Thimorn teilte, und hatte ihre Tiraden begonnen. Mit rotem Gesicht und weißen Handknochen hatte sie dort gestanden, der aufgestauten Wut auf die Patalier, ihren Vater, die Kapitäne und diese Stadt im Allgemeinen Luft gemacht. Schließlich sprach sie davon, dass die beiden in Begleitung einiger anderer zum Vhagatta-Atoll segeln sollten, um dort Vorbereitungen zu treffen. Sie hatte noch unzählige weitere Wünsche, die sie detailliert schriftlich festhielt und schließlich Thimorn in die Hand gab.
Sie waren im Bewusstsein über die Gefahren aufgebrochen, die sie auf der Reise und selbst auf den Inseln erwarteten, um dort einen Festplatz vorzubereiten. Das Werk einer wahnsinnigen Tochter, der Tochter eines Wahnsinnigen, so hieß es auf dem Schiff und bereits während der Fahrt wurde gemunkelt, dass es um das Vermächtnis des alten Rosthaupt gehen würde. Jeder hoffte natürlich, dass der Alte einem irgendetwas vermacht hatte. Auch wenn es nicht wahrscheinlich war.

Nach vier Tagen der Seereise, begleitet von regelmäßigen Stürmen, endlosem Dahinschleichen auf Grund der gefährlichen Riffe, des Fluchens und der angsterfüllten Blicke, ob nicht irgendwo der Trangenwurm lauerte, kamen sie schließlich an. Die Befehle waren eindeutig: Einen Festplatz für gut einhundert Leute herrichten samt Kapitänstisch und einer Überdachung. Und eine Rodung für die Leichtmatrosen, auf der zumindest ein paar Fässer und halbierte Baumstämme Platz finden würden.
Die Tage waren ruhig vergangen. Jene, die den Überfall der Patalier überstanden hatten, waren einfach froh, den Alten und seine Tochter nicht um sich zu haben, und der Rest hatte zu arbeiten, um am Ende nicht um seinen Kopf fürchten zu müssen. Irgendwann im Morgengrauen war Maerissa angekommen. Sie hatte mit freudiger Stimme jeden geweckt und zu sich gerufen, der nicht gerade Wache zu halten hatte und erklärt, was es mit diesen Dingen auf sich hatte: Es ging um die Eröffnung des Testamentes ihres alten Herrn. Am Abend sollte ein Bankett stattfinden, zu dem wenigstens ein Dutzend der Kapitäne Lavadors samt ihrer Mannschaften erwartet wurden.
Der Vormittag verging, abgesehen von Zurechtweisungen der Kapitänsfrau, in ruhiger Betriebsamkeit, auch wenn die gelegentlichen Gespräche Maerissas mit einzelnen Leuten Unruhe in die Arbeit brachten. Manch einer schwor, er hätte von ihr Hinweise über den Inhalt des Testamentes bekommen.

Uzmia war dann später am Strand als Wachposten für den übrigen Nachmittag eingeteilt worden, doch in der ersten Zeit standen alle wichtigen Leute, allen voran Rosthaupts Tochter, und auch ein guter Teil derjenigen, die nicht mit Kochen beschäftigt waren, mit am Strand. Als erstes kam eine Karavelle in Sicht, die Maerissa nach einiger Zeit als die Blutrochen identifizierte und wenig später lachte, als sie den alten Vitruvian an Bord erkannte und dies mit einem „Dann sind die Geschichten wohl doch wahr gewesen.“ quittierte. Die Karavelle kam im flachen Wasser zum Stehen, Personen begaben sich in die Beiboote und Maerissa rief dem ersten Schiff entgegen, was sie auch jedem folgenden zurufen würde:
„Ich begrüße euch, Kapitän, ihr habt Vhagatta erreicht! Strömung, Riffen und Sturm zum Trotz habt ihr die Fahrt auf euch genommen und seid dem wahnwitzigen Vorschlag meines Vaters gefolgt. Jedes bedeutsame Mitglied eurer Mannschaft soll sich bis zur Abenddämmerung in der Mitte der Insel einfinden, dort wird das Testament verkündet werden. Für die übrigen befindet sich einige hundert Meter von hier eine größere Rodung, auf der zur selben Zeit ebenfalls Rum und Speisen bereitstehen werden.“
Als die Beiboote die Küste hinaufgezogen wurden, entfernten sich einige der Wartenden wohlweislich von Maerissa. Man hatte sich an ihre gelegentlichen Wutausbrüche ganz im Stile ihres Vaters gewöhnt und irgendetwas behagte ihr offensichtlich nicht. Tatsächlich ging sie eiligen Schrittes auf den großen, weißen Vargen zu, hinter dem sich die Mannschaft sammelte.
„Wo ist euer Kapitän?“
Der blinde Blick des Angesprochenen sah starr in Maerissas Richtung, ehe er den weißen Kopf schüttelte und leicht sein Vargengebiss entblößte: „Kapitän Hasnadruk geht nicht von Bord der Blutrochen und er wird auch für Euch keine Ausnahme machen. Wenn Ihr ihm etwas zu sagen habt, sprecht zu mir. Wenn Ihr ihm etwas zu geben habt, überreicht es mir.“
Bevor die Situation weiter an Schärfe gewinnen konnte, rief es von einem der Ausschauenden: „Schiff in Sicht. Ich meine … äh … Schiffe in Sicht!“
Er deutete in zwei verschiedenen Richtungen, aus denen sich ein seelabischer Xiliumar einerseits und eine Kogge andererseits näherten. Gemurmel und auch Lachen wurde laut, da sich der Xiliumar von Westen näherte, denn allen war bekannt, dass im Westen des Atolls kein Weg durch die scharfkantigen Riffe führte. Die Aufmerksamkeit der Männer und Frauen am Strand ruhte auf den beiden ankommenden Schiffen, während Maerissa dem ersten Maat Hasnadruks die Trophäe für das Gewinnen der Regatta überreichte. Immer mehr Zuschauer verstummten und starrten auf den ankommenden seealbischen Gleiter. Personen mit scharfen Augen deuteten auf den schlanken Rumpf, als das Kratzen von Stein auf Holz laut über den Strand schallte. Die wissenden Gesichter erfahrener Seeleute verzogen sich erst zu Mienen der Traurigkeit, dann der Überraschung, als der Xiliumar plötzlich volle Segel setzte und weiter durch die Riffe gen Insel preschte. Die Mutter Siah, das Schiff von Kapitän Naarin Wellenlied, sonderbarerweise unter der Führung von Kapitän Sturmklinge und mit Kapitänin Zahida an Bord, war also als Zweites angekommen.
Die Kogge Sekals Braut erreichte noch während Maerissas Ansprache an Dariel, Zahida und Naarin die Küste. Sie wirkte leicht sturmgebeugt, doch den Kapitänen Djavar und Yamau schien es nichts auszumachen. Sie wirkten gefasst und beinahe ungewohnt ernst, als Maerissa nach einer dritten Ansprache den Papagei Mistkrähe in einer Voliere herantragen ließ und übergab. Mit einem kurzen Winken verdeutlichte sie Zalgor Bracken noch, dass nun die Makis verteilt würden und verließ den Schauplatz.

Mehr und mehr Männer der Mannschaften begannen trotz einiger skeptischer Blicke den Horizont abzusuchen, während sich ihre Kapitäne und andere hochrangige Mitglieder auf einen Hügel in der Nähe begaben. Gelegentlich traten Mitglieder aus Rosthaupts alter Mannschaft hinzu, flüsterten hier und dort etwas und entfernten sich in kleinen Gruppen wieder.
Drei weitere Schiffe tauchten in kurzen Abständen nacheinander in der Ferne auf. Dicht aufeinanderfolgend erreichten die Möwenhetzer unter Torbin Sturmhand, die Kleine Seefalkin unter Kapitänin Simin und die Sekalsflosse unter Kapitänin Adawae mit der Unterstützung durch Milena Sezienna die Küste. Auch diesen hielt Zalgor Bracken dieselbe Ansprache und überreichte ihnen mehr oder weniger feierlich ausgestopfte Mottenmakis als Preis für das Erreichen des Atolls.
Im Laufe des Nachmittags folgten Kapitän Jannis auf seinem Knarzkahn und die Seehexe unter den Kapitänen Jaakal und Xulu. Der Strand hatte sich mittlerweile gelehrt und Teile der Mannschaften hatten sich gemäß ihrer Befähigung entschlossen bei der Vorbereitung der Festlichkeit oder dem Leeren der bereitgestellten Rumfässer zu helfen. Vor der Kulisse des beinahe leeren Strandes erreichten schließlich Kapitän Varko auf seiner Wogenhure und Kapitän Barwol Kunai auf der Kulzarak noch das Atoll.

Lediglich Karrak Steinborn wurde an jenem Tag nicht mehr gesehen.

***

von Avalia

Im Splittermond-Forum diskutieren

Kommentare sind geschlossen.