Die Testamentseröffnung
Die Begräbnisfeier war einige Tage her, und Lavador war wieder in geschäftiges Treiben verfallen. Alles schien seinen gewohnten Gang zu gehen – beinahe zumindest, denn seit dem Tode Rosthaupts lag eine latente Spannung in der Luft und die Ruhe war trügerisch: Der mächtige Kapitän Rosthaupt war das unangefochtene Oberhaupt der Korsaren von Lavador und gewissermaßen auch der Herrscher über die Stadt gewesen.
Mit seinem Tod war ein Machtvakuum entstanden, und alle fragten sich, wie es gefüllt werden würde. Die Händler, Hehler, Kneipenbesitzer, Lustknaben und Freudenmädchen fürchteten eine gewaltsame Auseinandersetzung, einen offenen Krieg der Kapitäne gar, der ihnen auf unabsehbare Zeit die Einkünfte verhageln und vielleicht das Leben kosten würde. Die Waffenschmiede, Heiler und Totengräber hingegen rieben sich in Erwartung derselben Ereignisse die Hände. Gerüchte machten die Runde: Die Patalier würden zurückschlagen und Lavador dem Erdboden gleichmachen oder der mertalische Städtebund würde als Schutzmacht Fenos annektieren. Wieder andere wusste zu berichten, dass sich die gnomischen Eingeborenen des Hinterlandes bereit machten, sich ihre Insel zurückzuholen.
Die verbleibenden Kapitäne selbst belauerten sich und brachten sich in Position. Die brüchige Allianz zur Befreiung Maerissas war Schnee von gestern und keiner wusste, ob nicht der Korsar, mit dem man kürzlich noch Seite an Seite gegen die Patalier gestritten hatte, nicht morgen durch den eigenen Säbel fallen würde. Einige zogen halbherzig auf Raubzug aus, doch grundsätzlich warteten alle ab.
Eines war klar: Vor der Eröffnung von Rosthaupts Testament würde sich die Spannung nicht entladen.
***
In den Drei Münzen war an diesem Abend die Stimmung außergewöhnlich gut: Eine neue Sängerin war vor zwei Tagen von Bord eines seealbischen Seglers gekommen und trat nun zum ersten Mal auf. Die Schwarze Serra nannte sie sich und hatte die Gäste der Spelunke bereits beim ersten Lied vollends für sich eingenommen: Ihr atemberaubendes Äußeres tat sicherlich seinen Teil dazu, dass die rauhbeinigen Seeleute ihr überhaupt Aufmerksamkeit geschenkt hatten, doch mit ihrer wohlklingenden Stimme und den mal melancholischen mal anzüglichen Texten ihrer Lieder hatte sie die Herzen der Männer und Frauen gewonnen. Der Wirtin Kascha war es nur recht, denn beim Zuhören saß den Gästen der Beutel locker und sie tranken mehr, spendierten der Sängerin die ein oder andere Leckerei oder zogen sich aufgeheizt von den frivolen Anspielungen Serras mit einem der Freudenmädchen oder Lustknaben in die Hinterzimmer zurück.
Die Schwarze Serra hatte gerade zum zweiten Mal eine kleine Pause angekündigt und ließ ihren stummen Begleiter Harro, einen gescheckten Varg, der sie beim Singen auf einer seltsamen Metalllaute begleitete, mit einem Hut herumgehen, als die Tür aufflog und alle Gespräche verstummten. Maerissa, die Tochter Rosthaupts, betrat in Begleitung von Zalgor Bracken die Drei Münzen. Ihren sonst häufigen Begleiter Mutambwe hatte seit einigen Tagen keiner mehr gesehen Beim Begräbnis hatte Maerissa vom Tod ihres Vaters und der Gefangenschaft sichtlich gezeichnet gewirkt, und auch wenn die Zukunft der Stadt von ihren Worten – oder besser gesagt: der Verkündigung von Rosthaupts Vermächtnis durch sie – abhing, wollte man sie daher zunächst einmal unbehelligt lassen. Sie hatte sich auf das befestigte Anwesen Rosthaupts auf der Anhöhe über Lavador zurückgezogen und sich seither nicht mehr in der Stadt blicken lassen.
Doch nun war sie zurück und schien eine Ankündigung machen zu wollen. Wie anders sollte man es deuten, wie sie jetzt auf einen der Tische stieg und gebieterisch die Hand hob.
„Ihr Halunken und Tunichtgute, Halsabschneider und Hurenböcke, Mordbrennerinnen und Windsbuhlen, ich will sagen: Geschätzte Kapitäne und Kapitäninnen, Korsaren, Seeräuber und Piraten, hört meine Worte!“
Spätestens jetzt war ihr die Aufmerksamkeit aller Anwesenden gewiss.
„Wie ihr alle wisst, ist mein Vater vor kurzer Zeit aus dem Leben geschieden. Er starb wie er lebte: Gewaltsam, mitten im Leben und nicht ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Nach altem Brauch sollten seine Besitztümer, seine Herrschaft über diese Stadt, sein Sitz im Kapitänsrat, sein Ruf, sein Schiff, seine Mannschaft, kurz: all seine Hinterlassenschaften mir, seiner Tochter und einzigem Nachkommen gehören. Doch Rosthaupt macht keine Geschenke!“
Nur wenig verhohlener Groll sprach aus ihrer Stimme, als sie kurz inne hielt, um ihre Worte wirken zu lassen.
„Keine Geschenke“, wiederholte sie, „das waren die Worte in seinem Testament und so geht nur ein kleiner Teil seiner Besitztümer an mich und selbst den muss ich mir verdienen, indem ich seinen vermaledeiten letzten Willen vollstrecke.“
Es war totenstill im Raum, denn jeder harrte der Worte, die da kommen mochten. Maerissa kostete die Spannung aus, nahm einen tiefen Zug Rum aus dem Krug, den ihr Zalgor Bracken reichte, wischte sich achtlos mit der Ärmel den Mund ab und ließ ihren feurigen Blick über die Runde schweifen. Seit ihrer Gefangenschaft hatte man sie nicht mehr so energiegeladen, aber auch nicht so zornig gesehen. Offenbar hatte sie erst kürzlich richtig realisiert, wie sie von ihrem Vater übergangen worden war.
„Also vollstrecke ich es und meine erste Amtshandlung als Rosthaupts Testamentsvollstreckerin ist folgende Ankündigung: Wer bei der Testamentseröffnung anwesend sein will, hat sich zu Neumond auf dem Vhagatta-Atoll einzufinden. Das ganze wird eine Wettfahrt und gleichzeitig die erste von Rosthaupts sadistischen Aufgaben. Also bereitet euch vor, der Start ist übermorgen bei der höchsten Flut.“
Nach diesen Worten sprang sie vom Tisch, wendete sich mit ihrem Begleiter zur Tür und war verschwunden, bevor sich lautes Gebrüll und Stimmengewirr erhob:
„Das kann er nicht machen …“ – „Das weckt sicher den Zorn des Trangenwurms“ – „Das kann SIE nicht machen! Wir haben so lange gewartet und nun ….“ – „Das Vhagatta-Atoll? Das ist Wahnsinn!“ – „Da wimmelt es von Klippen, Kliffs und gefährlichen Untiefen!“ – „ … Revier des Trangenwurms!“ – „Mitten in den Sekalsstürmen, man kann zurzeit so eine Fahrt nicht machen.“ – „Ganz zu schweigen von den Haien …“ – „ … dem Trangenwurm!“ – „Wo ist denn Kapitän Varko? Der war doch eben noch da. Ist der schon los?“ – „TRANGENWURM! AAAAH“