Das Siegel von Fandurin

von Lars Reißig

 

Artwork: Furgand-Kampfpriester

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Furgand-Kampfpriester

In nicht allzu ferner Vergangenheit …

„Telkin? Es ist Zeit.“
Meister Fengils Stimme schreckte den jungen Novizen aus seiner Meditation.
Nein, das war Selbstbetrug.
Meister Fengils Stimme schreckte den jungen Novizen aus seinen Gedanken, die wie aufgescheuchte Ratten hin- und herhuschten und weit, sehr weit von jenem Frieden des Geistes entfernt waren, den zu erreichen der alte Priester seinen Schützling seit Wochen erfolglos zu lehren versuchte.
Es war Zeit.
Telkin, dem man den Beinamen „Funkenschlag“ gegeben hatte, erhob sich hastig, strich sich den wollenen Kittel glatt und nickte seinem Lehrer zu. Eine andere Antwort sparte er sich – aus Sorge, seine Stimme könne vor Aufregung brüchig und wie die eines Kindes klingen. Denn ein Kind war er nicht mehr.
Fengil Hammerhall schmunzelte unverhohlen in seinen Bart, als er den Eifer des Jungen bemerkte, und Telkin errötete in einer Mischung aus Scham und Ärger. Doch die Belustigung des Priesters war nur von kurzer Dauer, und etwas anderes trat an ihre Stelle, das Telkin nicht recht zu deuten wusste: War es feierlicher Ernst? Sentimentalität? Sorge?

Auf ihrem Weg durch die Stollen des Tempelbezirks begegneten ihnen andere Furgand. Jeder bedachte Meister Fengil mit einem respektvollen Gruß, wie es dem Alten zustand – doch war es Telkin, dem jedermanns Blicke folgten, kaum dass die beiden vorüber gegangen waren. Telkin, Sohn eines Waffenschmieds und einer Steinhauerin, Schüler des Hohepriesters im Tempel des Kashrok, ein Novize im zweiten Jahr der Priesterausbildung und, so behaupteten die Zeichen, Erwählter des Siegels von Fandurin. Jener heiligen Reliquie, die nun entscheiden sollte, ob sie ihn als Träger akzeptieren würde.

Im Schrein des Siegels war es heiß, heißer noch als in der großen Tempelhalle. Es waren mehr Feuerschalen und Kohlebecken aufgestellt, als für den kleinen Raum selbst im tiefsten Winter und an der Erdoberfläche nötig gewesen wären, und Telkins Novizengewand klebte ihm schon nach wenigen Herzschlägen schweißnass an Brust und Rücken. Rauch begann sich unter der Decke vor den viel zu kleinen Luftschächten zu sammeln. Eine seltsame Nachlässigkeit der einstigen Baumeister oder – wahrscheinlicher – der Tempeldiener, die für die Feuer in der Kammer zuständig waren. Das Holz in den Schalen war ganz offenkundig zu feucht, die Glut in den Kohlebecken schlecht geschürt. Telkin runzelte die Stirn und sah sich um. An den Wänden erzählten kunstvoll geschnitzte, aus dem Stein getriebene und vergoldete Reliefs von früheren Trägern des Siegels und ihrem Kampf gegen das Böse, dessen monströse Diener in rostigem Eisen und säureblindem Pyrit dargestellt waren.
Telkin schauderte. Diese Darstellungen des ewigen Kampfes Gut gegen Böse waren anders als jene, die er in den übrigen Tempelbereichen bereits gesehen hatte. Sie waren, bei aller Kunstfertigkeit,… ausgewogener. Ungeschönter. Hier wurden nicht nur Sieger gefeiert und die Macht der Götter gepriesen. Hier wurde jener Helden gedacht, die alles in die Waagschale geworfen und dabei gewonnen – oder aber alles verloren hatten.
Jeder von ihnen trug das Siegel von Fandurin.

„Das ist, was dich erwartet, Junge.“ Meister Fengils ruhige Stimme kam wie aus weiter Ferne, obwohl er kaum zwei Schritte entfernt war. „Das ist, was es bedeutet, der Erbe Fandurins zu sein. Du wirst die Stollen und Berge deiner Heimat verlassen. Du wirst jenen beistehen, die diesen Kampf nicht gewinnen können. Du wirst die Gefahr suchen, vor der andere fliehen – und gut daran tun. Du wirst das heilige Feuer Kashroks an die dunkelsten Orte tragen und Licht in den Herzen der Verzweifelten säen.
Und sehr wahrscheinlich wirst du sterben, Telkin.“
Der Novize drehte sich zu seinem Lehrer um. Fengils Blick ruhte auf den Bildnissen von Heroen und Märtyrern. In den Augen des Priesters glitzerten Tränen, die nichts mit dem beißenden Qualm zu tun hatten, der sich mittlerweile in einem trägen Strudel unter der Decke wälzte. Wie alt war der Tempelherr? Wie viele Träger des Siegels hatte er seit seiner Kindheit ins Ungewisse aufbrechen sehen, wie viele hatten schon wie jetzt Telkin neben ihm in dieser Kammer gestanden?
Wie viele waren je zurückgekehrt?

Der Priester blinzelte, und ihre Blicke trafen sich. „Du stehst am Scheideweg, Junge. Deine Ausbildung hat eben erst begonnen. Heute aber erweist sich, ob du dereinst ein Priester unter vielen oder der wahre Erbe Fandurins sein wirst. Es ist deine Wahl und die des Siegels. Einmal beschlossen, gibt es keinen Weg zurück. Du kennst den Lohn. Du kennst den Preis. Wähle, Telkin Funkenschlag! Und wähle weise.“

Telkins Herz raste. Er hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Es war ihm von Kindesbeinen an vorherbestimmt gewesen, diese Wahl zu treffen. Man hatte ihm die Geschichten der großen Helden erzählt. Schon an seiner Wiege war ihm von den guten Geistern aus Fandurin gesungen worden. Aber hier stand er allein, umgeben von Triumph und Scheitern all dieser Helden. Nicht seine Eltern. Nicht seine Lehrer. Seine Entscheidung. Er zögerte. Doch die Stimme des jungen Zwergen brach bei keinem Wort.
„Ich schwöre, das Siegel von Fandurin zu tragen und zu bewahren. Ich schwöre, mit seiner Macht den Schwachen beizustehen. Ich schwöre, im Kampf gegen Schrecken und Finsternis nicht nachzulassen. Das alles schwöre ich, bei Kashrok, bei den Mächten von Fandurin und bei meinem Leben!“

Der Hohepriester hob in beschwörender Geste die Hände.
„Dann nimm das Siegel an dich, Telkin Funkenschlag, Erbe Fandurins – wenn du kannst!“
Mit Fengils Worten verdichtete sich augenblicklich der dunkle Rauch an der Decke und floss wie Schlacke zwischen dem Novizen und dem Feuerbecken zu Boden, bildete Arme und Beine aus Kohlenstaub und Asche aus, Klauen und Fänge aus Schatten und einen Schlund aus purer Schwärze. Telkins Augen weiteten sich – der Priester hatte ein Finsterwesen mitten in Kashroks Heiligtum gerufen!

Die Erkenntnis und der Schrecken lähmten ihn, doch nur bis zum ersten Angriff der Kreatur, die ihn mit Armen aus heißem Qualm und Asche zu ersticken versuchte. Telkin hustete und würgte und schlug wild mit beiden Armen um sich.
„Ein Rauchwächter“, hörte er Fengils noch immer absolut ruhige Stimme über die aufkommende Panik hinweg von der anderen Seite des Raumes. „Nur ein Schatten, ein Hauch von Finsternis. Wenn du nicht einmal ihm die Stirn bieten kannst, Telkin Funkenschlag, wie willst du dann je gegen die wahren Diener des Bösen bestehen?“

Telkin keuchte atemlos. Funken und Sterne platzten vor seinen Augen. Todesangst breitete sich in ihm aus, während seine Finger wirkungslos durch Rauch und Asche glitten, unfähig, sich zu verteidigen. Was für ein ungerechter, unrühmlicher Tod! Was hatte der Meister gesagt? Seine Ausbildung hatte doch eben erst begonnen! Er war wehrlos, unbewaffnet!
Es sei denn, er konnte das Siegel von Fandurin erreichen.
Mit letzter Kraft kämpfte Telkin sich vorwärts. Rauch und Asche nahmen die Luft zum Atmen und fast die gesamte Sicht, doch aus der Glut leuchtete ihm das Siegel wie eine kleine Sonne entgegen, inmitten von Feuer, rotglühend, eine Armeslänge, eine Welt weit entfernt.
Aber Telkin war nicht mehr allein. Er wusste die Macht Kashroks auf seiner Seite. Das Geburtsgeschenk des Schmiedegottes an Telkin war die Macht über Flammen, sein Versprechen war die Weihe im heiligen Feuer. Der Novize war nicht allein, und er musste sich nicht fürchten. Nicht vor dem Feuer seines Gottes. Schatten zerrten und zogen an ihm, als er die Hand nach dem Kleinod ausstreckte. Gehorsam wichen die züngelnden Flämmchen zurück, bis sich seine Finger um das glühend heiße Siegel schlossen. Es verbrannte ihn nicht, denn Kashrok war mit ihm. Augenblicklich durchströmte ihn die mystische Macht des Feuers, pulste durch seine Adern, sein Herz, seine Lungen. Er musste nicht atmen. Er musste leben, kämpfen, die Finsternis besiegen! Flammen hüllten seine Hand und das Siegel ein, Flammen der Magie, Flammen des Zorns, und mit ihnen schlug er nach der Kreatur aus Rauch, riss sie von sich und in Fetzen.
Er war frei, und das Siegel war sein!
Sein Blick fiel auf seine brennende Faust, die das Siegel von Fandurin so fest umschloss, dass keine Macht der Welt es ihm je würde entreißen können. Er lächelte. Dann schwanden ihm die Sinne.

Die beiden Furgand saßen lange beieinander, bis der Hohepriester das Schweigen brach. „Der Anfang ist getan, Telkin Feuerfaust.“ Telkin blickte auf, als er seinen neuen Beinamen hörte. Fengil Hammerhall brummte zufrieden.
„Du bist der Erbe des Siegels von Fandurin. Du hast seine Macht gerufen, und sie ist zu dir gekommen.“
Telkin besah sich das Kleinod, das nun kalt und golden in seiner Hand ruhte.
„Was wird nun geschehen?“
„Nun“, sagte Fengil und erhob sich ächzend, „wird deine Ausbildung um einiges härter für uns beide werden.“


Designer’s Notes

Liebe Spieler,
Telkins Jugenderlebnisse stehen hier stellvertretend für Dinge, die auch im Leben Eurer Abenteurer so ähnlich stattgefunden haben mögen. Abenteurer sind Splitterträger – sie neigen dazu, dass ihnen Besonderes widerfährt. Sie gelten, oft ohne dass die Leute genau wüssten warum, vielleicht als Auserwählte von Göttern, Feen, Geistern oder dem gesichtslosen Schicksal. Ihnen werden wichtige Gegenstände anvertraut: Familienerbstücke, Reliquien, Talismane. Vielleicht gelten sie auch als Unglücksbringer, die Ärger magisch anziehen. So oder so – sie sind etwas ganz Besonderes, was sich bei manchen früh, bei anderen erst spät zu zeigen beginnt.