Ein Leben nach dem Tod

Veröffentlicht am 23. Februar 2016 von Uhrwerk Verlag in Lorakische Geschichten

Rasselnd entwich der letzte Atemzug Kapitän Rosthaupts geschundenem Körper, und Stille legte sich wie ein Leichentuch über die Kapitänskajüte. An dem ausladenden Bett aus schwarzem Nipai-Holz kniete seine Tochter Maerissa und vergoss stumm ihre ersten Tränen. Erst nach einem Augenblick, der so lang erschien wie die Ewigkeit, rührte sich im diffusen Dämmerlicht eine hochgewachsene Gestalt und legte vorsichtig, fast zärtlich eine schwielige Hand auf ihre Schulter. Mutambwe spürte das Beben unterdrückter Schluchzer unter seinen Fingern, doch er fand keine Worte, die der jungen Frau hätten Trost spenden können. Mit Worten war er nie so geschickt gewesen wie mit seiner Enterklaue. Inzwischen fragte er sich, ob das letztlich der Grund gewesen war, warum ihn Rosthaupt vor mehr als 13 Jahren zu seinem Ersten Maat ernannt hatte. Schon mancher Kapitän hatte durch einen wortgewandten Untergebenen sein Kommando verloren. Doch zu gern hätte Mutambwe geglaubt, dass es sein außerordentliches Kampfgeschick gewesen war, was den Ausschlag gegeben hatte, oder seine unbedingte Loyalität, nicht schlicht die Unfähigkeit, geschliffene Worte zu sprechen. Damals hatte er nicht lange nachgedacht über solche Dinge. Stolz kann eine große Kraft sein, wenn der gefürchtetste Kapitän der Kristallsee einem diese Gunst erweist. Zu gern hätte er auch all die Lügen geglaubt, die ihn bis an dieses Totenbett geführt hatten. Doch eines war so sicher wie das Kommen und Gehen der Flut: Rosthaupt ist – war – ein Monster. Ein Dämon in Menschengestalt. Er hatte jedes Tabu gebrochen, jede Sünde begangen, jede Regel verletzt und jede Schandtat verübt, die ein Mensch nur verüben konnte.

Er hasste ihn für all das, und für das, was er ihm angetan hatte. Mutambwe hatte seinem Kapitän vertraut; ihm sogar sein Leben anvertraut. Den Unfall bei der Krakenjagd, als er selbst der lebende Köder wurde, hatte Mutambwe ihm verziehen. Die Unannehmlichkeiten auf der pashtarischen Sklavengaleere waren das notwendige Opfer, das einer der Mannschaft hatte bringen müssen. Doch die Erniedrigung im gondalischen Frauenhaus hatte in ihm die ersten Zweifel aufkommen lassen. Da war es auch kein Trost, dass das Lösegeld für die Tochter des Magnaten die Laderäume der Knochenfaust beinahe überlaufen ließ. In eben jenem Augenblick hätten sie sich zur Ruhe setzen sollen. Ein Haus bauen, eine Familie gründen, vielleicht sogar einem normalen Tagewerk nachgehen sollen. Mutambwe war schließlich sehr geschickt, was das Schnitzen anging…

Genauso hatte er es Rosthaupt gesagt, in jener rauen, stürmischen Nacht. Doch der Kapitän hatte nur gelacht und gesagt: „Ich sterbe nicht an Langweile!“

Wie Recht er haben sollte!

Mutambwe legte das schwere Entermesser auf die Brust seines Kapitäns, faltete die Hände des Toten über der ledernen Scheide und schloss behutsam die leblos an die Kajütendecke starrenden Augen. Sanft half er Maerissa auf die Füße und zog sie mit nur wenig Gegenwehr auf die Tür zu, die hinaus aufs Achterdeck führte. Sie fühlte sich weich und zerbrechlich an, unpassend für diese Frau. Er kannte sie stürmischer als die See, beißender als der Nordwind, härter als der Schiffskiel. Mit einem Ruck drückt er die bronzene Türklinke herab und schob Maerissa zu der sich öffnenden Tür. Das Schiff schwankte heftig. Etwas polterte zu Boden. Aus den bleichen, erkaltenden Fingern des Kapitäns war das Entermesser gefallen. Mutambwe drehte sich zurück.

Mit drei langen Schritten stand er neben dem Bett und sah den Riss, der sich an der hölzernen Scheide des Entermessers aufgetan hatte. Ein Stück weißes Pergament lugte daraus hervor. Mit dem Gefühl eines heraufziehenden Sturmes im Nacken zupfte Mutambwe es heraus. Er entfaltete die Seiten und blickte auf eng beschriebene Zeilen. Mit jedem an seinem Blick vorbei fliegenden Wort rasten seine Augen schneller über die Buchstaben. Als er am Ende ankam und den letzten Satz verschlungen hatte, wand er sich um und hielt Maerissa das Papier entgegen. Mit Tränen verhangenen Augen las sie die ersten Zeilen, dann blickte sie verwundert auf. „Ein Testament? Er hat ein Testament geschrieben?“

„Ja“, brummte Mutambwe „Noch aus dem Grab treibt er sein grausames Spiel.“ Kopfschüttelnd faltete Maerissa das Dokument zusammen und schob es in ihre Bluse. „Wir müssen die Männer versammeln. Wenn er es so wollte, dann-“

Ein ohrenbetäubender Schlag unterbrach sie. Das Schiff schwankte heftig, und Maerissa packte eine Kante der Türzarge und hielt sich fest. Mutambwe fand als erster sein Gleichgewicht wieder und stürzte aus der Kajüte. Abrupt blieb er im Eingang stehen und wandte sich zu Maerissa um. „Wir werden angegriffen“, knurrte er. „Patalier. Eine ganze Flotte.“

 

***

 

Einige Tage später war das „Drei Münzen“ in Lavador gut gefüllt. An einem der Tische beugte sich ein hagerer Mann zu seinem Zuhörer. „Ich würd’s nicht glauben, wenn ich nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte: Die Säbel der Männer durchstachen den Schatten, und sicherlich siebzig oder achtzig Hiebe trafen diese Gestalt, während wir näher und näher kamen. Als die Schiffe gegeneinander krachten, sprang der Schatten hoch in die Luft. Kyreia stand mit erhobener Krakenpeitsche hinter deren Kapitän und forderte ihn auf sich zu ergeben“, erzählte er dem Seebären gegenüber.

In der Mitte des Schankraums stand auf einem Tisch eine Albin und sprach mit erhobener Stimme „Aber dann“, Vizaria macht eine lange Pause, „dann erschien die Mutter aller Haie!“ Schnell wirkte sie eine magische Formel, und auf einmal erschien das Monster tatsächlich vor den Augen der Zuschauer. Ein gewaltiger Hai, mit Zähnen groß wie Dolche und einem Leib größer als jede Kutsche manifestierte sich unter der Decke des Schankraums. Wild schnappte das Untier nach Vizarias Publikum, und obgleich es nur ein magisches Trugbild war, jagte es selbst einigen der hartgesottenen Seebären einen Schrecken ein.

In einer Ecke saß Mutambwe über sein Bier gebeugt und verfolgt missmutig die Geschichte. Die Albin endete, und Mutambwes Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm zu Kapitänin Zahida und der vor ihr ausgestellten Truhe mit Gold. „Pah – Gold!“ rief er und erhob sich leicht angetrunken von seinem Stuhl. „Es gibt viel wichtigere Schätze als eine kleine Truhe wie diese. Wenn ihr wüsstet, was ich schon alles gesehen habe, was ich erlebt habe, was mir Rosthaupt alles angetan hat – aber ich bin kein Mann der großen Worte…“ Er drehte sich wieder um, wollte sich gerade wieder setzen.

„Was ist denn jetzt eigentlich mit Rosthaupt?“ war es von der Theke zu hören. „Man sagt, er habe ein Testament hinterlassen.“

„Ja.“ Mutambwe hielt inne, drehte sich zurück und ging langsam auf die Mitte des Raumes zu. Er spürte, wie das Bier seine Zunge löst. „Ja, er hat ein Testament hinterlassen. Und er hat wahrhaft große Dinge zu vererben, und oft hat er sie nicht mal an einen bestimmten Mann vererbt, sondern einfach den mit dem schnellsten Schiff, mit den meisten Weibern oder was weiß ich als Erben eingesetzt. Doch es ist ohnehin gleich. Die vermaledeiten Zettel sind mit Rosthaupts Tochter in die patalischen Kerker gewandert. Und meine Mannschaft schläft größtenteils bei den Fischen. Tja, ohne Testament kein Erbe.“

Stille breitete sich aus.

„Und weißt Du auch, wo Maerissa gefangen ist?“, fragte ein blonder junger Kapitän, dessen Schiff erst vor ein paar Tagen in Lavador eingelaufen ist.

„Sie haben sie auf der Festungsinsel Markeh eingesperrt, soweit ich weiß.“

„Und das hält uns ab?“ fragt der Blonde. In seiner Stimme schwang die Herausforderung mit.

„Um sie da raus zu bekommen, brauchst du eine ganze Flotte, mein Junge“, knurrte Mutambwe zurück. „Deine kleine Nussschale und deine vier Leute kämen nicht mal nah genug ran, um einen Haken über die Mauer zu werfen. Mehrere große Piratenschiffe, so wie es einst die Knochenfaust war, die hätten vielleicht eine Chance… aber so… “

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